Einführung der neuen Allgemeintoleranz ISO 22081

Nicht alle Tage wird eine neue Norm eingeführt. Und oft geschieht dies ohne viel Tamtam und ohne grosse Erwähnung in den Medien. Allerdings haben manche Normen sehr grosse Auswirkungen auf die Entwicklung in der Industrie. Eine grosse Bedeutung kann hier auch der in diesem Jahr veröffentlichten Allgemeintoleranz ISO 22081 beigemessen werden, welche als Ersatz für die demnächst zurückgezogene DIN ISO 2768 dienen soll. Eine Allgemeintoleranz hat den Zweck, auf einer technischen Zeichnung, alle Merkmale zu tolerieren, welche funktionell untergeordnete Eigenschaften aufweisen. Das können zum Beispiel Aussparungen, Freistellungen an Bohrungen oder rein formgebende Geometrien sein. Man kann eine Allgemeintoleranz auch als Auffangnetz für übrige Tolerierungen betrachten.

Wie wird Toleriert?
Gemäss der bereits bestehenden GPS-Norm ISO 8015, welche der ISO 22081 übergeordnet ist, gilt das Prinzip der Unabhängigkeit. Das Werkstück wird also in einzelne Geometrieelemente unterteilt, wie zum Beispiel: Fläche, Zylinder, Kegel, Kugelform und so weiter. Diese Elemente nennt man integrale Geometrieelemente oder je nach Verwendung auch Grössenmasselemente.

Aufteilung in Geometrieelemente gemäss ISO GPS 8015

Jedes Geometrieelement ist von anderen unabhängig und muss darum individuell toleriert werden. Sollen diese Geometrien mit der neuen Allgemeintoleranz toleriert werden, muss eine allgemeine geometrische Spezifikation und eine Grössenmassspezifikation über dem Zeichnungskopf angegeben werden. Im folgenden Beispiel wird eine Formtoleranz von 0,1mm zu den Bezügen A, B und C angegeben und darunter die linearen oder Winkel- Grössenmassspezifikationen. Grössenmasselemente sind daran zu erkennen, dass Geometrieelemente abgeleitet werden können, zum Beispiel ein Punkt bei einer Kugel, eine Achse bei einem Zylinder, oder eine Mittelebene zweier parallelen Flächen.

Beispiel eines Zeichnungskopfes nach ISO 22081

Welche wesentliche Änderungen gegenüber der DIN ISO 2768 gibt es?
Bisher galt, dass bei Allgemeintoleranzen welche nicht eingehalten wurden, das Werkstück nicht automatisch zurückgewiesen werden durfte, wenn die Funktion nicht beeinträchtigt ist. Dies führte bis anhin zu vielen Diskussionen zwischen Lieferant und Kunde. Bekanntlich wurde aber die DIN ISO 2768 meist auch für funktionskritische Spezifikationen angewendet. Da nach ISO 8015 das Prinzip der Vollständigkeit und der Funktionsbeherrschung gilt, wird bei der ISO 22081 die Klausel der Zurückweisung nicht mehr verwendet. Analog zu ISO 8015 ist auch bei den Allgemeintoleranzen davon auszugehen, dass Überschreitungen der Toleranzgrenze gleichzeitig Funktionsgrenzen verletzt werden und ein Werkstück somit nicht mehr funktioniert.

Eine weitere wesentliche Änderung betrifft die Stufenmasse und Radien. Eine der grössten Schwächen der DIN ISO 2768 war die Mehrdeutigkeit dieser Merkmale. Mit der neu angewendeten allgemeinen Flächenformtoleranz wird besonders auf diese Stufenmasse und Radien abgezielt. So können zukünftig Fehlinterpretationen vermieden werden. Abgeleitete Geometrieelemente wie Achsen, Mittelebenen oder Mittelpunkte sowie integrale Linien werden mit der 22081 nicht toleriert. Dies ist allerdings auf Grund der allgemeinen Formtoleranz auch gar nicht notwendig. Der Hinweis „TEDs nach CAD-Model ´´werkstück.step„„ ,kann eine Zeichnung bedeutend übersichtlicher machen.

Das Normengremium der ISO 22081 konnte sich nicht für die Verwendung einer Tabelle mit Toleranzwerten einigen, so wie wir es bisher aus der DIN ISO 2768 kennen. Es besteht allerdings die Möglichkeit auf ein entsprechendes internes Dokument oder eine länderspezifische Norm zu verweisen. Aus diesem Grund hat beispielsweise Deutschland die Norm DIN 2769 ins Leben gerufen. Die Bezeichnung ist wohl absichtlich gewählt um die Verwandtschaft mit der DIN ISO 2768 aufzuzeigen. Darin sind verschiedene Toleranzklassen enthalten, die sich an die bereits bekannte DIN ISO 2768 anlehnen. Neu ist, dass auch Dimensionen unter 0.5mm toleriert werden können. Die definitive Herausgabe wird im Verlauf des Jahres 2022 erwartet. Die DIN 2769 ist wie die DIN ISO 2768 verfahrensunabhängig. Es ist gut möglich, dass sich diese neue deutsche Norm, zur Ergänzung von ISO 22081, sich später auch in den anderen Industrieländern durchsetzt.

Müssen die Spezifikationen der ISO 22081 geprüft werden?
Es ist davon auszugehen, dass die neue Allgemeintoleranz nach wie vor bei funktionell nicht oder weniger relevanten Toleranzen angewendet wird. Die Tolerierung sollte nach dem Prinzip so grob wie möglich und so genau wie nötig gewählt werden. Ausserdem sollte sie dem allgemein üblich Machbaren entsprechen. Daher werden Allgemeintoleranzen nicht geprüft. Es empfiehlt sich dies dem Kunden bereits bei der Angebotsstellung entsprechend zu kommunizieren.

Fazit
Ohne eine vorgängige Einführung von ISO 8015 macht die Anwendung von ISO 22081 kaum Sinn. Da die Norm ISO 8015 bereits Ende 2011 herausgegeben wurde, wäre es sicher an der Zeit sich über eine konsequente Umsetzung der ISO 8015 im eigenen Betrieb Gedanken zu machen. Eine Einführung der neuen Allgemeintoleranz steht dann nichts mehr im Weg. Gegenüber der DIN ISO 2768 räumt sie auf mit Wiedersprüchen, Unklarheiten und Missverständnissen. Und in Kombination mit der DIN 2769 können auch Toleranztabellen wieder genutzt werden. 

2 Gedanken zu „Einführung der neuen Allgemeintoleranz ISO 22081“

  1. Die alte ISO 2768-1 fordert sehr konsequent die Funktionsbeherrschung: Liegt sie nicht vor, erklärt sich diese Norm für ungültig. Die viel spätere ISO 8015 ist dagegen wachsweich: Funktionsbeherrschung sollte vorliegen, wenn nicht liegt das in der Verantwortung des Spezifizierers. Einer ISO GPS sollte man niemals blind Funktionsbeherrschung unterstellen.
    Heute ist klar, dass die ISO 2768-1 fachliche Schwächen hat: Wie soll mit Abständen (z.B. Radien) Funktionsbeherrschung erreicht werden, wenn diese keine eindeutige Geometriespezifikation darstellen?
    Mit der neuen ISO 22081 geht die Spezifikation einer Toleranzschärfe verloren. Auch hilft hier die DIN 2769 nicht. Was weiterhin fehlt ist eine Berechnungsmethode für die Toleranzschärfe von Form- und Lagetoleranzen. Ohne diese ist die ISO 22081 unpraktikabel – ja sogar gefährlich, da bei einem erfassten Geometrieelement das klein ist und nahe am Bezugssystem liegt, die Toleranzschärfe sehr klein werden kann. Ein solches Geometrieelement kann damit sogar „verschwinden“.
    Wer mit der betrieblichen Einführung von ISO GPS die ursprünglichen Fertigungszeichnung ersatzlos ersetzt braucht sich über nachfolgende erhebliche Probleme in seinem Produktentstehungsprozess nicht wundern. Die unmittelbare Fertigungszeichnung mag zwar seit Industrie 2.0 eine alte Wirtschaftsweise darstellen, die moderen ISO GPS ist aber mitnichten per se die bessere Wahl. So ungeschickt waren unsere Urgroßväter nicht…

    Antworten

Schreibe einen Kommentar